Ich saß in der zweiten Reihe und kämpfte dagegen an, nicht in haltloses Schluchzen auszubrechen. Das ist mir immer noch peinlich. Mich hatte etwas berührt, tief drinnen. Ein Gefühl, das ich lange, lange schmerzlich vermisst hatte, so schmerzlich, dass ich es in die hinterste Ecke der Gefühlsschublade verbannt hatte, ähnlich einem Lieblingskleid, von dem frau sich nicht trennen kann: Einerseits erinnert es uns an hinreißend schöne Momente, andererseits konfrontiert es frau schonungslos damit, dass sie weder kilo- noch altersmäßig je wieder reinpassen wird.

Dass wir so lang leben dürfen,
Schnäpse kippen, Rotwein schlürfen,

feurig würzen, Biere stürzen,
prassend unser Leben kürzen.
Dass wir so sehr lieben können,
Loser sind, die gern gewönnen,
blind von Tränen, krank vom Sehnen,
fallen, weil wir uns anlehnen.

 Dass wir so sehr lieben können…“

Ich saß in der zweiten Reihe eines Konzertes von Hannes Wader. Er hatte nach 45 Jahren Freundschaft mit Manfred Hausin ein Gedicht von ihm vertont, übers Leben, übers Älterwerden, ums Kämpfen, über das „so lang leben dürfen“.

 Was hatte mich bei diesem Lied, diesem Konzert so berührt?

Eine Gefühlsintensität, die sich aus vielen Erinnerungen und Gefühlen speist: Ein Aufbruchsgefühl, das Gefühl der Verbundenheit mit Menschen gleichen Sinnes, ein Gefühl des tiefen Verstehens und Verstandenwerdens, ein Gefühl von: Ja, gemeinsam können wir „es“ schaffen! Und was meint „es“?

Melancholisch ausgedrückt: Nicht unterzugehen. Was zuweilen in meinem Leben ein durchaus angestrebtes Ziel war. Und wo ich, nebenbei bemerkt, jede noch so gut gemeinte Aufforderung eines Coaches, ich möge „es“ doch in positive, ziel-lösungs-ressourcen-orientierte Worte packen, als bloßen Hohn empfunden hätte. Nicht immer weiß mensch, was er oder sie ‚stattdessen’ will, nicht immer rettet einen die Positiv-Brille.

„Es“ meinte aber häufig auch mehr, anderes und durchaus ‚positiv Motiviertes‘:  Die Welt zu retten, mutig einzutreten für Überzeugungen, wach zu bleiben, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen, sich treu zu bleiben, nicht zu verstummen.

Wonach sehnen wir uns (auf Konzerten)?

Ähnlich ging es mir früher häufig auf und nach Konzerten von Konstantin Wecker. Schon die Tatsache, dass da noch jemand war, der Widerstand leistet – auch gegen das eigene Untergehen – der es wagt, unbequem zu bleiben, Dinge beim Namen zu nennen, hat mir Mut gemacht, „es“ ebenfalls zu wagen. Ich fühlte mich weniger allein mit meinen schrägen Vorstellungen von Weltverbesserung und einer Sehnsucht, die selten gestillt wurde. Denn häufig wusste ich gar nicht, wonach ich mich eigentlich sehnte oder was ich eigentlich vermisste.  Und erst in einem Lied, einem Gedicht, erkannte ich sie wieder: Jemand hatte die richtigen Worte dafür gefunden.

Völlig unvergessen auch mein allererstes großes Konzert. Ich war mit 19 grad vom platten Land nach Köln gezogen – schon das ein Ereignis ungeheuren Ausmaßes – das sich aber blass ausnahm, gegen die 2. Reihe in einem Konzert von Mikis Theodorakis. Maria Farantouri und Tausende von Griechen sangen, klatschten, stampften sich ihre Sehnsucht und ihre Wut und ihre Hoffnung aus dem Bauch und aus der Seele. Das war 1973, ein paar Wochen oder Tage vor dem Ende der Militärdiktatur. Eine Woge, eine Welle, ein einziger Menschenenergieschwarm. Und ich mittendrin.

Ein ewiges Dilemma:  Sich frei und gleichzeitig verbunden fühlen wollen

Wonach sehnen wir uns? Warum besuchen wir Life-Konzerte (oder Fußballspiele)? Bei allem Sehnen und streben nach Freiheit und ‚frei sein von‘, sehnen wir uns nach dem Gegenpol, der Verbundenheit. Kommt nur drauf an, mit WAS wir uns verbinden. Denn Ver-Bindung bindet auch. Viele binden sich an WARE  oder an Ziele, die ihnen (oder der Welt) nicht gut tun, wundern sich später, dass sie sich innerlich dennoch ‚hungrig‘ fühlen und ständig ‚auf Suche‘ sind. Kann Materielles unser Bedürfnis nach Verbundenheit befriedigen? Nährt und berührt es unsere Seele und unseren Geist so, dass wir mutig und gerne zu leben wagen?

Ich jedenfalls war berührt wie lange nicht mehr. Ich war berührt, dass auch Hannes, dessen Lieder ich/wir häufig in Freundesrunde rotweinselig bis zum Morgengrauen gekalmpft haben, mit mir, ich mit ihm, älter geworden ist.

Ich war berührt, weil mich jemand erinnerte, dass viele Freunde und Verwandte schon – viel zu früh – gegangen sind, dass „so lang leben dürfen“ Gnade und Geschenk ist und dass ich das viel zu häufig vergesse vor lauter Machen und Leben-mitgestalten-wollen.

Ich war berührt, von Erinnerungen und der Mahnung, dass da noch eine Sehnsucht in der unterersten Schublade haust: die nach Aufbruch, Widerständigkeit, nach Mut, sich einzumischen, „dass wir unsere Lieder singen, sie durch laute Zeiten bringen…“.

Ich war berührt von dem Gefühl, dem Leben, Dir und anderen nah zu sein. „Nah dran“ eben, so wie der Titel Deines Konzerts und Deiner neuen CD lautet.

„Wenn es auch nicht Freiheit war, in fremdenWagen, während mancher langen Fahrt, … hab ich mich doch hier und da, bei manch einem, unter dessem Dach ich lag,zu Haus gefühlt, für manche Stunde manchen Tag.“

Lange hab ich mich nicht mehr so ‚zu Hause‘ gefühlt wie in diesen zwei, drei Stunden.
Danke, Hannes!

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Und Sie? Warum be-suchen Sie Konzerte? Was suchen Sie oder haben Sie dort zu suchen?