Ganz plötzlich überfiel mich gestern das Gefühl tiefer Einsamkeit. Draußen alles trist, trüb, Totenstille. Absolut nichts rührte sich an Karfreitag; kein Mensch, kein Auto, nicht mal der Wind.
Die Freundinnen: Alle irgendwie verreist. Und, ehrlich, wer will schon den wohlverdienten Urlaub stören mit: Ach, ich fühle mich heute so grausam einsam. Ich erreichte eine alte Freundin. Die war ziemlich gut drauf: Doch, ja, alles prima, Beruf, Familie: alles im Griff. Ich stockte: Sollte, wollte ich ihr bekennen: Eigentlich gibt’s auch bei mir keinen Grund zu klagen, aber heute fühle ich mich so entsetzlich einsam? Schließlich beging ich DEN Kapitalfehler schlechthin: Ich schickte einer längst verflossenen Liebe eine SMS. Die blieb – versteht sich – ohne Resonanz.
Heute Morgen bei Sonnenschein sah es: das Leben, die neuen und selbst alten Lieben, die Zukunft, die Vergangenheit entschieden weniger düster aus. Das Einsamkeitsgefühl war von Orkanstärke 7 auf eine leichte, leise, melancholische Brise abgeflaut.
Kein Gott nirgends oder Meine Sehnsucht nach Zugehörigkeit
Einsamkeitsgefühle dieser tiefen Art überfallen mich besonders zu den christlichen Feiertagen: Weihnachten, Ostern, Pfingsten. Wehmütig blicke ich zurück auf Zeiten, als ich noch an den lieben Gott glaubte, die Struktur des Kirchenjahres auch meinem/unserem Leben einen beruhigend-wiederkehrenden, verlässlichen Rhythmus gaben; ja, und wie einfach war es doch damals, ziemlich mühelos Menschen gleichen Sinnes zu treffen: z.B. sonntags in der Kirche. Seitdem ich den Lieben-Gottes-Glauben verloren habe – Fluch und Segen der Beschäftigung mit der Philosophie – komme ich mir verlorener vor als früher. Keine Kirche mehr, der ich mich zugehörig fühle. Kein Gott mehr, dem ich klagen, flehen, fluchen oder danken, und mit dem ich immer reden kann.
Wozu gehöre ich ? Wem fühle ich mich zugehörig?
Zugehörigkeit ist ein hoher Wert. Wir sind soziale Menschen. Ohne Zugehörigkeit fühle nicht nur ich mich einsam, wage ich zu behaupten. Ich möchte mich zugehörig fühlen. Nicht in einem platten, oberflächlichen Sinne, sondern einem spirituellen, ideellen, tragfähigen Sinne. Das kann ein Ort, eine Idee, eine Vision, von mir aus auch ein Glaube sein.
Ich fühle mich aber Bielefeld nicht zugehörig; ich bin Zugereiste; ich fühle mich dem, was viele unter Coaches/Coaching verstehen, nicht zugehörig; ich fühle mich den Rentnern – noch nicht – zugehörig; ich fühle mich den Familienmüttern nicht mehr zugehörig. Zugehörig fühlte ich mich, trotz Einsamkeitsgefühlen, der Großstadt London. Das lässt sich schlicht zusammenfassen in den Worten: I am/I was a Londoner! Zugehörig gefühlt habe ich mich lange Zeit zur Gemeinschaft der Christen. Zugehörig fühle ich mich u.a. allen (selbst)kritischen, suchenden, hinterfragenden Menschen; zugehörig fühle ich mich dem Werden und Vergehen der Natur.
Leicht panisch denke ich: Das kann doch nicht alles sein, wozu du dich zugehörig fühlst? Nein, sicher nicht, aber jetzt gehe ich erst mal raus in den noch vorhandenen Sonnenschein. Ich werde Ostern meine Familienmitglieder fragen, ob und wem sie sich zugehörig fühlen. Vielleicht kann ich von anderen lernen, was sie vor diesem tiefen Gefühl des Sich-Einsam-fühlens bewahrt. Ich meine einsam, nicht allein.
Wozu gehören Sie im tieferen und engeren Sinne? Wem fühlen Sie sich zugehörig?
Verehrte Frau Ast,
auch ich schrieb zu Ostern einen Brief, in dem ich die Begriffe „Einsamkeit“ und „Alleinsein“ ansprach und meinte, dass das Eine aus dem Anderen folgt, wohl aber beide zusammen existieren können – quasi als Schnittmenge.
Das von Ihnen gebrauchte Wort „Zugehörigkeit“ hat für mich vermutlich eine andere Bedeutung und damit auch einen anderen Gefühlwert als für Sie. Einst gehörte ich einem Verein an (ist aber schon lange her). Ich war einer von ihnen. Aber das hat mein Gefühl der Einsamkeit nicht beseitigt. Heute gehöre ich keinem Verein mehr an und die ablenkenden Aktivitäten mit jenen „gleichen Sinnes“ sind nicht mehr existent. Die Einsamkeit allerdings ist geblieben.
Ich denke, dass Zugehörigkeit nicht hinreichend ist, um Einsamkeit auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Deshalb würde ich diesen Begriff gerne durch den der „Gemeinschaft“ ersetzen. Ich verbinde damit eine Art „größerer Erfüllung“.
Einsamkeit und Gemeinschaft scheinen mir konträre Begrifflichkeiten zu sein (so wie schwarz und weiß – oder – gut und böse), zwischen denen das eigene „Selbst“ möglicherweise am besten aufgehoben ist. Es darf von keinem dieser „Pole“ vereinnahmt werden, sonst verliert es seine Freiheit und ist nicht mehr „es selbst“. In der Einsamkeit, ohne ein partnerschaftliches Du mag der Mensch zugrunde gehen, durch zu viel Gemeinschaft aber wird er zum Massenmensch.
So, liebe Frau Ast, nun haben Sie mich doch durch Ihren Osterbrief zum Nachdenken motiviert – was wohl Ihrer Absicht entspricht. Ob das, was ich gedacht habe Sinn macht, werde ich nicht erwägen. Was ich aber erwäge ist, meine nunmehr nur mehr halb volle Flasche mit Rotwein zu leeren, um so meine Einsamkeit erträglicher zu machen.
Prost! – (Schade, dass ich nicht mit Ihnen anstoßen kann.)
Milly