Wut- oder Mutbürger? Wie halten Sie es mit Ihrer Wut (aus)?
Nachfolgenden Artikel habe ich schon letztes Jahr geschrieben. Da hatte ich eine Phase, wo ich weder Blogartikel noch Newsletter zu schreiben wagte. Es gab es einen explosiven Grund für mein Schweigen: Ich hatte WUT. Ich war wütend! Nein,nein, nicht wütend, Sie verstehen schon: WÜ-TEND! Es war keine kleine, piselige Situationswut auf X oder Y, sondern es war diese Wut genereller, existenzieller, explosiver Art. Ich frage mich gerade, wenn ich so in die Deutsche ‚Landschaft‘ schaue, ob ich sie nicht mit vielen anderen teile?! Ihre Explosivität bezieht sie aus einem machtvollen Gefühl.
Ich nenne sie Ohnmachtswut.
Ohnmachtswut, weil sie sich aus 1000 gefühlten Ohnmachten speist, die mich angesichts von Dingen, Entwicklungen heimsuchen, auf die ich keinen – oder meine keinen – Einfluss zu haben: Das geht über Facebook-Verherrlichung, TV-Verdummungssendungen, All-Macht, die EIN anonymer! Twitter-Mensch über Ruf und Unruf von jemandem hat, darüber, wie Medien Miniereignisse aufblasen, (z.B. Bahnverhältnisse in Mainz, wo eh jedermann weiß, dass Dauerunterbesetzung in vielen Firmen die Regel ist). Ohnmachtswut überkommt mich, lässt das Adrenalin in Mount-Everest-Höhen anschwellen ob der Tatsache, dass offensichtlich weniger Qualität als vielmehr Marketingstrategien/Eigenvermarktungs“künste“ über Erfolg und Misserfolg von Büchern, Bürgern, Beziehungen entscheiden. Um nur einige meiner ‚Wuten‘ zu nennen. Die Liste ist lang. Sehr lang.
Jedenfalls war die Summe der – gefühlten oder realen – Wut-Ohnmachten, so groß, dass ich es für besser hielt, erst mal gar nichts zu sagen. Mir fehlte schlicht Maß und Mut zur öffentlichen Wut. Ich hegte die – durchaus berechtigte – Angst, alles und jedes und jeden in diesem Wutstadium niederzumachen. Mit – vorsichtig formuliert – unerfreulichen Folgen.
Dennoch stellte ich mir immer häufiger die Frage: Wie will ich mit meiner Wut in Öffentlichkeit umgehen?
Wieviel Mut braucht es, sie öffentlich kundzutun und den Gegenwind auszuhalten? Und, muss ich hier im Blog in meiner Rolle als Coach bleiben? Muss ich dafür in den Chor der immergleichen Dauer-Direkt-Ermutigungen vieler Ratgeber, KollegenInnen, Sendungen, Politiker einfallen? Muss es IMMER Ermutigung sein? Um welchen Preis? Oder kann nicht schon ein/mein Bekenntnis zur Wut auch und genauso ermutigen? Geht es nicht erst mal darum, wahrzunehmen, dass man(n) wütend ist, herauszufinden, warum, worauf, weswegen? Wut hat immer Ursachen! Diese herauszufinden, macht, siehe Aristoteles, Arbeit. Arbeit, die viele sich nicht machen wollen.
Wege, mit der eigenen Wut umzugehen
„Jeder kann wütend werden, das ist einfach. Aber wütend auf den Richtigen zu sein,
im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck
und auf die richtige Art, das ist schwer:“ – Aristoteles.
Stellt sich Ihnen und mir mit Aristoteles die Frage: Was ist die richtige Art? Wohin mit Ihrer bzw. meiner Wut? Wie sie loswerden, ohne verbrannte Erde zu hinterlassen, andere niederzumachen oder sie in sich hineinzufressen? Wie kann ich sie so kanalisieren/nutzen, dass sie mir und anderen nicht schadet? Meine ersten Gedankengänge dazu:
Ich unterteile mal grob in die drei Kategorien, in denen mensch ansetzen kann:
- Körperliche Ebene
- mentale Ebene
- König Zufall
1. Körperliche Ebene
Man(n) kann den Adrenalinspiegel wegrennen, abstrampeln, im Sport/Fitnessstudio reduzieren – bevor er zu Mount-Evererst-Größe anwächst. Ich kann Yoga oder Progesssives Muskeltraining machen und/oder ein Entspannungsbad nehmen oder … Was machen SIE auf dieser Ebene?
2. Mentale Ebene
Die unterschiedlichen Schulen und Denkrichtungen haben unterschiedliche Herangehensweisen, Techniken, Strategien, Methoden, wie mit Gefühlen, in diesem Fall mit WUT umgegangen werden kann. (immer wieder nett zu lesen der Klassiker, u.a. hier :Ein Mensch ist fremd in einer Stadt und fragt: „Wo geht’s denn hier zum Bahnhof?“ und erhält, je nach Schule, völlig unterschiedliche Antworten.)
Hier einige Vorschläge aus meinem Tool-Kasten, die Sie probeweise auf sich/Ihre Wut anwenden können:
- Die NLPlerin in mir: Erinnere dich: Wo und wie hast du die Wut schon mal gut bis souverän bewältigt?
- Die Lösungsfokussierte: Stell dir vor, sie ist schon gar nicht mehr da, was würdet du dann machen?
- Die Gestalttherapeutin: Lass dich in die Wut fallen. Irgendwann titschte unten auf – und kriegst automatisch wieder Auftrieb in die andere Richtung. (Bliebe noch zu klären, welche das wäre!)
- Die GfK (Gewaltfreie Kommunikation) fragt: Welches (elementare) Bedürfnis ist bedroht, dass du dermaßen elementar wütend bist? Welches Bedürfnis schreit sozusagen nach Befriedigung?
- Die Systemikerin: Woran erkennst du sie? Woran erkennen andere sie bei dir? Was müsstest du tun, um sie bis in alle Ewigkeiten zu behalten?
- Die Lebenskünstlerin: Welcher Gegenpol/welche Gegentugend – Mut? Gelassenheit? – wäre nötig, um wieder in Balance zu kommen?
- Und die leidenschaftliche Wortliebhaberin schlägt die Wort-Umdeutungsmetheode vor: Nimm einfach ein anderes Wort als WUT! Welches beschert dir andere, weniger destruktive Gefühle? Empörung, Entrüstung, Einmischung, Zorn, Rebellion… (Probieren Sie es: JEDES Wort lässt andere Gefühle und Bilder in Ihnen hochkommen und zwar SOFORT!)
Das sind natürlich nur (Kurz)Formen der Fragetechniken, die jeder gute Coach – und auch ich – drauf habe. In allen Fällen geht es darum, die EIGEN-Kommunikation und damit Wahrnehmung und Bewertung zu verändern. Wer sich anders fragt, gibt sich selbst andere Antworten und kommt so zu andere Erkenntnissen und Ergebnissen.
3. König Zufall
Manchmal hilft König Zufall tüchtig mit, um die Wut verrauchen zu lassen und ent-spannt statt überspannt damit umzugehen. Mir fiel a) der o.g. Kalenderspruch von Aristoteles im passenden Moment in die Hände. Allein die Botschaft, dass Wut keine einfache und leicht zu händelnde „Sache“ ist, sondern der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens und Nachspürens bedarf, lies mich weniger wütend sein. Und b) fiel mein bereits 3x gelesenes Buch „Wohin mit meiner Wut“ von Hariet Goldhor Lerner wieder in die Hände, das ich gleich und besonders den wütenden Frauen weiterempfehlen möchte.
Sonderthema: Frauen und Wut
FRAUEN und WUT, das, so meine ERfahrung, geht immer noch schlecht bis gar nicht zusammen. Genau das thematisiert die Autorin in ihrem Buch. Und erklärt anschaulich, warum selbst wütende Frauen, so selten „Erfolg“ haben. Sie unterscheidet zwischen „Die nette Frau“ und „Die Furie“. Wobei die nette Frau aus Furcht und Harmoniesucht alle Wut brav runterschluckt, die Furie durchaus ihre Wut rauslässt, allerdings so, dass sie auf Unverständnis und Ablehnung stößt. Das Ergebnis ist bei beiden, Sie ahnen es, dasselbe: Es verändert sich gar nichts!
Das Buch „Wohin mit meiner Wut? – Neue Beziehungsmuster für Frauen„ ist von Harriet Lerner. Erschienen ist es als Taschenbuch im Fischer-Verlag zum Preis von 8, 95 Euro (und, wie ich grad sah, mit einem total bescheuerten neuen Cover!)
Ich empfehle es ohne jegliche Einschränkung allen Frauen als Lektüre, selbst wenn sie es, wie ich, schon 3x gelesen haben. Mir gefällt, dass es Wut als etwas Wertvolles erachtet, die be- und ge-achtet werden sollte, und nicht einfach weggemacht, weggeklopft, (mit Pillen) runtergeschluckt werden darf. Es macht (Frauen) Mut zur Wut und befreit vom Irrglauben, Wut sei nur eine individuelle Angelegenheit, sondern macht klar, dass Wut immer auch gesellschaftliche Bezüge/Ursachen hat. Ferner enthält das Buch viele Beispiele aus dem (Beziehungs)Alltag, die sofort einleuchten und die frau auch gut auf ihre Situation anwenden kann.
… und nun alles zurück auf Anfang: Wie gehen Sie mit Ihrer (Ohnmachts)Wut um?
Sehr geehrte Frau Ast,
ich habe gerade Ihren Nachruf auf Dr. Michael Conradt gelesen. Es kann gut sein, dass wir zeitüberschneidend an den gleichen Philosophie-Kursen teilgenommen haben.
Nun habe ich auf Ihren „Lebenskunstblog“ geklickt und Ihre Ausführungen über „Ohnmacht oder wie gehen sie mit Wut um“ gelesen.
Wenn ich mein Leben kurz überschlage, dann habe ich „Ohnmacht“ und „Wut“ schon öfter durchlebt – und auch die Konsequenzen meiner „Wutausbrüche“ (grausiges Wort). Zuerst quälte mich meine Ohnmacht, dann kam ES zum Ausbruch. Meistens gegen Leute, die sich mir gegenüber „autoritär“ verhielten (was seine Historie hat). Meine Reaktionen haben sich um Konsequenzen, die meinen Verstand / meiner Vernunft schon bekannt waren, nicht gekümmert. Meine Gefühle haben – wie sagt man so treffen – meine Vernunft (was immer das sei) im Nu versklavt – dann kam der Ausbruch, der aber ganz verschiedene Formen annehmen konnte, denn der Verstand war nicht weg – er war als Sklave aktiv. In vielen Fällen blieb Ohnmacht übrig, die aber oft wieder der fruchtbare Grund für neue Wut war. Die Synthese zwischen diesen konträren Positionen ist mir selten (wenn je überhaupt) gelungen.
Als „Gefühlsmensch“ (wie ich mich sehe) auf die Welt gekommen, haben mich Gefühle immer in Schwierigkeiten gebracht – das gilt bis heute. Daher habe ich mich schließlich mit Verstandesdingen beschäftigt: mit Philosophie, besonders mit Erkenntnistheorie und formaler Logik. Das hat mir keine „wirkliche“ Erkenntnis gebracht. Mir ist es nicht gelungen, mich – auch nur ein bisschen – selbst zu erkennen. Ich bin mir selbst stets ein Fremder geblieben. Ja, Camus hat schon einen guten Einblick in diese fremde und absurde Welt gehabt. Allerdings teile ich sein Fazit nicht: Ich kann nicht nachvollziehen, dass man sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen kann; daher würde ich den ersten Satz in dem hier indirekt erwähnten Buch, der lautet „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord“ anders entscheiden.
Wie schrieb Dr. Conradt immer:
„Beste Grüße“
Milly
@Milly – Schön, dass Sie mich über den von mir sehr geschätzten Herrn Dr. Conradt gefunden haben, und Danke für Ihre Erfahrungen zum Umgang mit Wut und deren Folgen. Ich schwanke bei meiner Antwort zwischen: Ach, das gibt’s ja gar nicht! Gerade beschäftigt mich meine – niedergehaltene – Wut mal wieder sehr intensiv: In dem Versuch ein „Handbuch Lebenskunst“ zu schreiben, komme ich seit Ewigkeiten nicht weiter. Was ich schreibe, fühlt sich saft-und kraftlos an – dafür revoltierte mein Magendarmtrakt immer gereizter. Zeit, mal wieder eine kleine systhemische Aufstellung für mich dazu zu machen. Ich kürze ab: Es zeigte sich dermaßen massiv, dass man bzw. frau die Wut nicht runterschlucken sollte! Sie somatisiert sich sonst. Sie steht als Motivations- und Veränderungskraft MIR nicht mehr zur Verfügung. Ich habe sie schließlich, liest sich kitisch bis esoterisch, ist es aber nicht – spontan liebevoll umarmt!. Nun bin ich selbst gespannt, welche Auswirkungen das auf meine Texte haben wird. Gefühlt würde ich schon jetzt sagen: 1000x kraftvoller!
WARUM wir nicht mir unserer WUT – oder ich auch mit der darunterliegenden Traurigkeit – umgehen können, hat ja seine biografischen Gründe. Wer, wie ich, katholisch erzogenes Landkind, Vater im Krieg gewesen, um nur ein paar Anmerkungen dazu zu machen, und mit der, natürlich subtil eingeforderten, Devise: „Doch wie’s da drin‘ aussieht, geht niemand was an!“ groß geworden ist, der oder die muss sich natürlich nicht wundern, dass Gefühle-ausdrücken megagefährlich war. Dennoch, nachdem ich sie, die Gefühle, jahrelang in Therapien analysisiert, durchfühlt, durchlebt, bis auf den Grund durchdrungen habe, brachte mich das in den bestimmten Situationen null Meter weiter. Entweder ich unterdrückte sie = ich implodierte, oder ich explodierte. Mit den Ergebnissen, wie Sie sie beschreiben.
Mir ist durch die Philosophie klar geworden, dass ich nicht nur ein gefühlsgesteuerter Mensch bin, sondern durchaus gegenlenken, nämlich GEGENDENKEN kann. Das erfordert Übung, bevor mensch halbwegs meisterlicher darin wird. Dennoch: Ich höre nicht auf mit Üben! Denn Freiheit beginnt für mich im Plural: Wut UND einen Kühlen Kopf bewahren können! An dieser Art von Freiheit bleibe ich dran!
Und zum Schluss kommt jetzt doch noch der Coach in mir durch und ich möchte Ihnen noch eine Frage an Sie aus Kapt. 10, meines hoffentlich in diesem Leben noch zu erscheinenden Buches, das die Top 10 der Fragetechniken erhält, stellen. Und diese hier ist eine meiner LIeblingsfragen, die Sie auf JEDES Thema anwenden können: WORAN ERKENNEN SIE, DASS… Woran erkennen Sie, dass Sie „wahre“ Erkenntnis gewonnen haben? Woran würden Sie erkennen, dass Sie sich selbst kein Fremder mehr geblieben sind?
In meinem emotionalen Coaching- und Philosophievorleben hasste ich Skalierungen: Igitt, bäh, Zahlen! Mittlerweile mag ich sie. Sie helfen, „Dinge“ messbarer und damit händelbarer zu machen. Kommt noch eine Frage hinterher, wenn Sie mögen: Auf einer Skala von 0 bis 10: Wo würden Sie Ihre Fremdheit sich selbst gegenüber einordnen? Und woran würden Sie – oder ich oder sonstwer – erkennen, dass Sie dort und nicht 2 Punkte drüber oder drunter stehen?
Ich hoffe, ich bin Ihnen mit diesen (Coaching)Fragen nicht zu nahe getreten. Das war eins der Dinge, die Dr. Conradt eben nicht so richtig gut akzeptieren konnte: dass ich immer auch den Fokus darauf hatte: Was hilft MIR das Ganze hier bzw. das Studium der alten Philosophen,anders, besser, souveräner, weniger zwanghaft umzugehen: mit mir, mit anderen, dem Leben selbst. Das ist Nützlichkeitsdenken, klar, aber wer gerade in einer seelischen Notlage ist, darf und muss lernen, für sich zu sorgen. – Sehr schade, dass er nicht mehr unter uns weilt.
Herzlich grüßt Sie aus dem gerade gewittergeschüttelten Bielefeld
Maria Ast