Ein besinnliches Fest wünschen sich viele. Mein Besinnungstext zielt weniger auf Frieden in der Welt, sondern Befriedung mit uns selbst. Er richtet sich besonders an Menschen, die mit sich unzufrieden sind, mit sich hadern: Zweifler, Grübler, Nachdenkliche, Kümmerer, solche, die glauben, sie wären weniger wichtig, wertvoll, liebenswert als andere Menschen. Menschwerdung – ein vielgebrauchter Begriff an Weihnachten. Ich geh’s bescheidner an und möchte Ihnen einfach ein paar besinnliche Momente bescheren, die zur Selbst-Werdung ermutigen wollen.
Ganz da, ganz du, ganz hier
Ja, mach Dauerlauf oder Rückenschule, geh kegeln mit Freunden oder sing im Chor, verlieb dich neu oder bilde dich fort – jedenfalls tu was für dich.
Tu, was dir Lust macht, gern zu leben. Denn dass du gern Du bist, ist Menschenpflicht. Oder hat man dich gelehrt, dass du gefallen musst, und schön zufrieden soll man mit dir sein? Das ist ja nicht ganz falsch, aber in erster Linie musst du wieder mit dir einverstanden werden. Du musst ja für dich geradestehen. Du darfst dich nicht verachten müssen.
Liegst du manchmal wach und hasst dich? Oder gehst du nach der Arbeit erst noch einen trinken, um dein Firma-Ich los zu werden? Erschrickst du wenn du deinen scharten Ton hörst? Oder hast du Angst, weil alles beängstigend gut läuft?
Merk auf. Schau hin. Fühl nach. Ja, spüre dich. Es ist auch demütigend, sich kennenzulernen. Und doch ist es nötig zu wissen, wo man mit sich dran ist. Sonst spielt man sich und andern vor, wer man gar nicht ist. Und die Fassade eines, der den Siege gepachtet hat, die kracht zusammen; es ist nur eine Frage der Zeit.
Erkenne die Lage, rechne mit deinen Defekten, geh von deinen Beständen aus (Gottfried Benn).
Also hinschauen: Setzt du zu, verausgabst dich, bist kaum beteiligt am Gewinn? Oder sahnst du ab, redest dich oft raus? Geht man dir aus dem Weg?
Rechne mit deinen Neigungen und meide die Versuchung. Wenn du unter Druck kommst, wechsle sofort das Thema oder den Raum, damit du noch glimpflich davonkommst.
Sieh deine Bestände: was du kannst, der du bist, wie du wurdest, wohin du willst. Achte deine Sehnsucht und deine Erfahrung, deinen Lebensmut und dein Lieben/Geliebtwerden. Sieh auch die Spuren deines Veränderns. Wie du irgendwie von selbst, langsam fester wirst, entschiedener, weniger anmaßend oder vortäuschend oder verachtend, mehr zugewandt; mehr ganz da, ganz du ganz hier.
Glaube Gott oder dem Leben: Gut, dass du da bist. Halte dich für wichtig; du bist ins Leben gerufen vom Schicksal. Und glaube: Gut, dass du du bist. Genau mit deinen Begabungen und Schatten bist du nötig, für das Gespräch, das Team, dies Netz des Zusammenlebens, das genau dich braucht, wenn du endlich ganz du wirst. Und glaub: Gut, dass du hier bist. Wie du hier bist, so gehörst du hierher. Der Augenblick ist dein. Nimm ihn in acht.
Traugott Giesen, Carpe diem – Pflücke den Tag, 80 Kolumnen für ein gelingendes Leben. – Textauszug mit freundlicher Genehmigung des Radius-Verlages
In diesem SINNE: Ihnen allen ein achtsames, besinnliches, friedvolles Weihnachtsfest, mit sich, mit anderen.
Maria Ast
Ein schöner Text! Ich bin überzeugt, wenn der einzelne mit sich „in Frieden“ leben kann, hat die Welt eine Chance, in Frieden zu leben.
Herzliche Grüße,
Peter Reitz
Dann sind wir schon Zwei, die das glauben.
Leider ist es nicht so einfach, mit sich in Frieden zu leben. Prägungen, die einen langen Atem auf unser Denken und Tun haben, Systeme/Systemisches, das zu ändern nicht NUR in unserer Macht steht, Werbung, Medien, Marketing… alles hat einen Einfluss auf unseren Selbst-Frieden. Mit sich selbst befreundet zu bleiben, ist fürwahr eine Kunst geworden. Und das drückte der Text für mich ebenso kritisch wie ermutigend aus.
Dankes-schön für Ihren Kommentar!