„Werde, der du bist!“- Schön wär’s!
Sich coachen zu lassen, um „seine Potenziale zu entfalten, das Beste aus sich herauszuholen, erfolgreich seine Karriere oder sein Leben zu meistern“, diese Form der Unterstützung ist mittlerweile nicht nur bei Fusballern und Managern, sondern in der breiten Masse der Bevölkerung (wie Boulevardblättern) angekommen.
Zunehmend frage ich mich allerdings, ob das, was ich unter Persönlichkeitscoaching verstehe: Das Entdecken, Fördern, Erweitern einer/seiner einzigartigen Persönlichkeit, seiner EIGEN-Art , dem „Werde, der DU bist“ immer näher zu kommen , Kunden, Coaches, Ratgeber auch noch so sehen. Meine Wahrnehmung ist die, dass Kunden vom Coach(ing) – unbewusst – eher eine Art Befähigung zur Persönlichkeitsoptimierung erwarten (und Berater/Coaches/Ratgeberbücher dies gar und gerne befeuern und fördern).
„Werde, wie andere dich wollen/brauchen!“ – Beispiele aus Praxis und Eigenleben
Ich merke es bei den StudentInnen, die ins Coaching kommen mit dem – unausgesprochenen – Anspruch: Hilf mir, die/der zu werden, die/der sich nahtlos an die ‚Bedürfnisse‘ der Firmen/Märkte/Managerprofile an- und einpasst. Das mag ’ne Weile gut gehen, sogar den erhofften Erfolg bringen, mancheine(r) findet sich dann als erfolgreicher Middle-Ager erneut im Coaching wieder, dann allerdings mit der Frage: Wer bin ICH eigentlich? bzw. Wer bin ich EIGENTLICH?
Ich merke es an Frauen in Führungspositionen, die ins Coaching kommen, und immer noch glauben, SIE seien nicht in Ordnung, sie müssten SICH SO verändern, dass sie sich einer männerdomminierten Auffassung von ‚Führung‘ anpassen und einpassen. Ich wage aus Erfahrung zu behaupten: Eine FührungsKRAFT mag frau so werden – eine FührungsPERSÖNLICHKEIT sicher nicht.
Ich merke es an Menschen, die mit Beziehungsproblemen kommen und/oder auf Partnersuche sind: Noch immer glauben viele, wenn sie sich nur so oder so verändern würden: weniger schüchtern, 10 kg leichter, witziger, spritziger, erfolgreicher, interessanter… wären und werden, DANN, ja dann wartet das Beziehungsglück auf mich. Tut es nicht. Sich selbst gut zu kennen, sich selbst zu akzeptieren, über eigene Stärken UND Schwächen lächeln zu können, hilft weit mehr, ein Gegenüber oder Miteinander zu finden, das zu einem passt, als jede Verbiegungs- oder Optimierungsanstrengung. Was nicht meint, die Kommunikationskompetenz nicht zu erweitern! Im Gegenteil.
Und: Ich merke es bei mir selbst, wenn es um das Thema Selbst-Vermarktung/Selbstdarstellung und scheinbar eherne Marketinggesetze geht, die da u.a. lauten: Richte dich am Kern-Bedürfnis der Kunden aus; biete immer! Lösungen statt Hintergründiges, füttere deine KundenInnen mit kostenlosen Downloads an, vermittle zumindest den Eindruck von Dauerpräsenz im Netz – um nur einige zu nennen.
Mehr Mut zum ICH. Mut zum Eigen-Sinn.
Es braucht immer mal wieder ein Innehalten, ein Wachsam-bleiben: Muss ich, will ich das mit 59 Jahren noch? Will ich Fülle an Erfahrung und Wissen „engpasskonzentriert“ reduzieren müssen, um nicht als als „Bauchladencoach“ eingestuft zu werden? Will ich meinen kritischen Geist, mein Infrage-stellen, meine bewusste Nicht-Dauerpräsenz, meine zuweilen altersbedingte Energielosigkeit verleugnen müssen, um als ‚high-level-Coach‘ zu gelten?
Anders ausgedrückt: Will ich WESENtliches von mir abspalten müssen, damit ich „kundenkompatibel“ bin? Müssen, wollen wir – egal ob als Chef, Mitarbeiter, Partner – Wesentliches verdrängen, verkümmern, verarmen lassen, um „markt-kompatibel“ und ‚erfolgreich‘ zu sein?
Meine Antwort lautet Nein. Es muss andere Kriterien geben, wenn es um Selbst-Werdung im klassischen Sinne geht. Schon aus diesem Grund ernahme ich mich, selbst wachsam zu bleiben, meinen kritischen Geist nicht einlullen zu lassen, mit mutigem Beispiel voranzugehen bei Versuch und Irrtum, die zu werden, als die ich gemeint bin. Denn eins erfordert Eigen-Sinn auch: Die Fähigkeit, mit Gegenwind zurecht zu kommen.
Ein Original sein – und originell sein. – Was gehört wesentlich zu mir? Was macht mich aus?
Wesentlich meint: Zum eigenen Wesen gehörend, etwas, das den Kern in uns, in mir berührt. Das hat viel mit unseren Werten zu tun und einem – guten oder mangelhaften – Wissen über uns selbst. Um Selbstkenntnis zu erwerben, braucht es Innehalten zum Nachdenken: Wer bin ICH? Wie viele ICHs gehören zu mir? Welchen Facetten meiner Selbst und meines Selbst dürfen, sollen wachsen, um das Gefühl von Identität zu bewahren, das wir landläufig mit ICH bezeichnen? Here I am! That’s me! Daraus entsteht ein Voraus-Denken, das nicht blind losstolpert und sich irgendwo wiederfindet – beruflich, beziehungsmäßig, persönlich – wo es ‚eigentlich‘ gar nicht hinwollte!
Eine Persönlichkeit werden.
Schauen Sie hin, halten Sie inne, besinnen Sie sich, wenn Sie nicht nur Ihre Persönlichkeit fremd-optimieren, sondern sich weiterentwickeln wollen, keine Kopie, sondern ein Original – eine Persönlichkeit – sein und bleiben wollen.
Sonst mag es Ihnen wie dem durchaus erfolgreichen jungen Mann gehen, der sich vor Headhunteranrufen nicht mehr retten konnte und nicht mehr wusste, in welche Richtung er beruflich gehen wollte oder sollte. Auf die Frage, was sein Coachinganliegen sei, antwortete er: „Helfen Sie mir. Ich hab Angst, mein Leben zu verpassen. Ich habe Angst, mich zu verpassen.“ Dem Manne konnte geholfen werden. Er hat gelernt, frühzeitig auf SICH zu hören.
Mit sommerlich-heißen Grüßen für heut.