Das neueste, handliche Büchlein von Wilhelm Schmid, Unglücklich sein: Eine Ermutigung, ist passend im „feeling blue“-Blau im Insel Verlag erschienen. Hier meine Rezension und Gedanken dazu.
Welche Maske tragen SIE?
Wir alle tragen Masken. Fast immer und überall. Masken zu tragen macht Sinn. Sei es zum Selbstschutz, um andere zu schützen, um jemanden zu täuschen oder nicht zu ent-täuschen. Die Motive mögen variieren.
Wir machen uns fröhlicher, freundlicher, fitter, höfliche oder witziger, um Kindern, Kunden, Mitarbeitern oder unseren alten Eltern nicht mit dem ganzen Ausmaß unserer Sorgen zu überfrachten.
Wir machen uns dümmer, kleiner, unwissender, unscheinbarer, bescheidener, um nicht aufzufallen, anzuecken, Männern zu gefallen oder um Kind, Chef, Mitarbeiter nicht bloß zu stellen.
Wir machen uns – www macht’s möglich – reicher, schöner, jünger, sexier, interessanter, um Freunde oder den Partner fürs Leben zu finden. (Oder weil wir morbiden Spaß daran haben, andere zu verarschen.)
Verstecken Sie sich hinter einer Glücksmaske?
Sosehr Masken unser Leben und unsere Rollen begleiten, erleichtern, schützen , so fragwürdig wird „Maskerade“, wenn sie uns krank macht, in den Burnout, in die Verzweiflung und in die Einsamkeit treibt. Das passiert dort, wo wir gezwungen werden, wesentliche Persönlichkeitsanteile von uns zu verleugnen. Die Folge: Wir verbiegen uns. Wer sich dauerhaft verbiegt, der geht irgendwann krumm. Oder zer-bricht. Oder bricht aus.
Verbiegen tun wir uns häufig aus Angst: Angst, nicht mehr dazuzugehören, Angst, den Job oder Partner zu verlieren, Angst, nicht mehr eingeladen, eingestellt, geliebt, geachtet zu werden, Angst, dass, sollten wir unser wahres Gesicht zeigen, sich alle mit Grausen abwenden und wir einsam und allein zurück bleiben.
Die Angst mag berechtigt oder hausgeprägt sein, wenn aber ein Großteil der Menschen Angst haben muss, weil „die Gesellschaft“ etwas zur Norm erhebt und alle mit Häme, Aussortieren oder im besten Fall noch Mitleid überschüttet, der nicht in diese Norm passt oder pressen lassen will, dann passt was nicht mehr.
Ich spreche von dem, was der Philosoph Wilhlem Schmid die „Glücksnorm“ oder den „Zwang zum Gklücklichwerden“ nennt. Schon in seinem Buch „Glück: Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist“, hat er sich äußerst kritisch mit dem derzeitigen Glückshype auseinander gesetzt, der, statt Menschen glücklich zu machen, sie eher immer mehr unter Druck setzt: Werde glücklich! Sonst ist dein Leben verfehlt! Und wenn dir das – mit oder ohne Ratgeber und Experten – nicht gelingt, tja, dann bist DU selbst schuld!
Leiden Sie an Weltschmerz? Dann sind Sie nicht allein!
Wenn Glücklichsein zur Norm erhoben wird, stehen selbsternannte Normhüter/Normerfüller schnell auf der Matte. Und die grenzen hüben wie drüben, früher wie heute gerne und zügig solche aus, die der Norm nicht entsprechen. Mit tragischen Folgen: Wenn sich in einer Gesellschaft, Firma, Familie niemand mehr traut, sein unglückliches und trauriges Gesicht zu zeigen, dann ist das ein Ausblenden von wesentlichen menschlichen Zügen. Das kann nicht gesund sein. Nicht für Individuen. Nicht für Gesellschaft.
In seinem jüngst erschienen Buch „Unglücklichsein: Eine Ermutigung“ bricht der Philosoph ein Lanze für all jene, deren Traurigsein über normales, situativ durchaus angebrachtes Traurigsein hinausgeht, eines, das nicht an ein bestimmtes Ereignis oder Situation gekoppelt ist, sondern umfassender, tiefer, untröstlicher ist.
Es ist ein tiefes Unglücklichsein, Weltschmerz, unter dem und an dem die Melancholiker leiden. Das Buch zeigt nicht nur die Unterschiede zur Depression auf, sondern macht klar, wie wertvoll melancholische Menschen AUCH! für Gesellschaft sind: weil sie sensibler, schneller, früher – und schmerzhafter – wahrnehmen, wo es hakt, als diejenigen, die sich im Glückstaumel oder Glückssuche befinden.
Auch wenn ich ihm in einigen Punkten vehement widerspreche – , nein, nicht nur Schmerz bringt große Werke hervor, auch Größenwahn und Machtstreben haben (Bau)Werke erschaffen, die im historischen Rückblick als „groß“ eingestuft werden, und, nein, nicht nur Leid oder Verzweiflung führt zu Veränderung, und nein, meine schönsten Stunden waren nicht die, als der Schmerz nachließ – so finde ich es doch ein äußerst wichtiges Buch. Warum?
Wenn viele, allzuviele unterwegs sind in Richtung Glückspol, dann wird es Zeit, dass irgendwer aufsteht, seine Stimme erhebt , um den Gegenpol zu vertreten, damit überhaupt wieder so etwas wie Balance entstehen kann.Ich nenne die melancholischen Menschen MOLL-Menschen. Das Verdienst dieses kleinen blauen Büchleins liegt für mich darin, dass jemand den Moll-Menschen in dieser lauten und hämmernden DUR-geprägten Welt wieder Gehör verschafft. Dieses Mal eben etwas lauter, als in seinen Grundlagenwerken.
Die Welt ist Klang!, steht es in den Upanishaden. Was wäre ein Bachoratorium, was ein bittersüßer Lovesong, was unser Innenleben, was eine Welt ohne diese tief berührenden Moll-Töne? Welche Welt wäre das? Sie wäre ärmer! Wollen wir das wirklich?
Wilhelm Schmid, Unglücklich sein: Eine Ermutigung, Insel Verlag, 8 €.
Wilhelm Schmid, Glück: Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist, Insel Verlag, 7 €.
PS – Einen „Poetischen Nachschlag“ zum Thema finden Sie in meinem ATEMPAUSE – Lebenskunstbrief Nr. 3 unter Punkt 3.
Liebe Maria,
„Atempause“ – ja, das ist ein schöner Titel für den Newsletter. Danke auch für die Zeilen von Mascha Kaléko im „poetischen Nachschlag“. Sie bereichern jetzt meinen Zitatenschatz. Mir scheint, da wäre noch einiges zu holen; immerhin hat sie schon 1933 „Verse vom Alltag“ veröffentlicht.
Herzliche Grüße
Jens