Das ist schon überraschend, welch unterschiedliche Reaktionen ich auf meinen vorherigen Diary-Eintrag bekam, in dem ich meine Traurigkeit über den Nicht-genug-Erfolg-gehabt-haben-als-Coach sozusagen öffentlich gemacht habe.

Als Erstes die beste Freundin. Die meinte: „Warum tust du dir das an? Dich öffentlich so klein zu machen, das überhaupt öffentlich zu machen? Ich würde mich nie so NACKT zeigen…“ Aha. Wie wir – hoffentlich alle – seit Schultz von Thuns 4-Ohren-Modell wissen, senden und empfangen wir mit 4 unterschiedlichen Ohren:. Ich finde es immer wieder spannend, die Selbstoffenbarungsebene beim Gegenüber zu entdecken oder in diesem Fall auch aufzudecken: Was sagt das denn über DICH aus, dass du ’sowas‘ niemals, niemals, nie machen würdest, also DIESE =  erfolglose Seite und den Umgang damit zu zeigen? (Das war EINE Facette unseres Gesprächs. Und die gehört eben nicht in die Öffentlichkeit).

Ich schlug ihr vor, das Wort NACKT doch mal versuchsweise durch das Wort EHRLICH zu ersetzen. Und? Siehe da, es änderte schon was an ihrer Gesamtbewertung. Ich habe – erfolgreich! – versucht, ihr zu vermitteln, was meine MOTIVE sind, ’sowas‘ zu tun. U.a. bin ich es leid, immer nur Erfolgsgeschichten, also das gute ENDE von Misserfolg, Scheitern, Trauern, zu lesen – statt dass jemand sich IM Prozess des Werdens, Leidens, Ringens ehrlich und offen, somit auch öffentlich outet. Getreu der Devise: „Sei du die Veränderung, die du dir wünscht für diese Welt“, tue ich dann eben genau das, was ich mir von anderen gewünscht hätte/habe.

A diary is a diary is a diary – und kein Erfolgs-Blog! Natürlich hätte ich auch – ein Tagebuch zeigt eben die Tagesform und nicht in Stein gehauene Wahrheiten  – noch zwei Tage warten können, und hätte mit der erfolgreichen Bewältigung des Tages- oder vielleicht auch Alterstiefs aufwarten können. Und? Siehe oben: Deja vu! bzw. noch treffender: Dejà lu!, alles schon 1.000 und mehr gelesen.

Es geht um Werte! – Welche WERTE will ich (vor)leben?

Ein WERT, den ich (vor)leben will: Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Offenheit im Umgang mit anderen (mit mir selbst sowieso). Das schafft VERTRAUEN! Ich habe es mein ganzes Leben so gehalten. Und ich habe nur gute Erfahrungen damit gemacht. Das Werte- und Entwicklungsquadrat fest als Richtschnur/Prinzip in meinem Kopf, weiß ich natürlich: Hüte dich vor jeder Art von Einpoligkeit! Das gilt auch für Offenheit/Transparenz. Unvergessen dazu der Kommentar meiner NLP/Coaching Ausbilderin Bärbel, die, als es darum ging, die positiven Seiten an uns zu benennen – ich natürlich OFFENHEIT nannte – meinte: „Na ja, wer IMMER offen ist, ist nicht ganz dicht!.“ –  sprach’s und ging vondannen. Aber ICH habe es für alle Zeit behalten: dass jede Einpoligkeit in der Übertreibung mündet, und jede Übertreibung zum Problem wird irgendwann. Immer!

WERT ZWEI: Mir fällt dazu der Kurstitel für meine Trauerbegleitausbildung (1999 – 2001) ein: Trauernde trösten – aber wie? Letztlich ist mir klar, dass ich im Trauerprozess bin: Abschied tut weh, wenn bzw. weil mensch etwas für ihn oder sie WERT-volles verliert. Und Menschen, die trauern brauchen was? Eben. TROST. Mich jedenfalls haben in meinen dunklen, traurigen, unerfolgreichen, melancholischen Zeiten TEXTE/ MUSIK von Gleichbetroffenen viel mehr getröstet, als jeder noch so positiv daherkommender, aufmunternde Tipp/Ratschlag. Ob es ihr nicht ähnlich ergangen sei? Doch…, ja…, so betrachtet, hätte mein offenes ‚Bekenntnis‘ eben doch einen tieferen Sinn. Nee, nackt würde sie das jetzt auch nicht mehr nennen wollen.

WERT DREI: Sich treu sein. Die unterschiedlichen Rückmeldungen haben mir gezeigt: Steh weiterhin so unbeirrt zu deinem Schreibstil, deiner Art, deiner Ehrlichkeit, bleib deinen Werten treu. Das braucht zuweilen Erinnerer und ErmutigerInnen. Und just heute morgen…, wie der Zu-Fall es will, fand mich im Radio/WDR3, kurz vor 9.00, ein Gedicht von Büchner-Preis-Trägerin 2025 Ursula Krechel, das dermaßen passte und mich lächelnd, beglückt und ermutigt in den Tag entließ.

Umsturz (1977)

Von heut an stell ich  meine alten Schuhe
nicht mehr ordentlich neben die Fußnoten
häng den Kopf bim Denken
nicht mehr an den Haken
fress keine Kreide. Hier die Fußstapfen
im Schnee von gestern, vergeßt sie
ihr habt sie mir gestutzt: Den leeren Käfig
stellt mal ins historische Museum
Abteilung Mensch weiblich.

Ursula Krechel