Glücklich sein wollen wir alle. Glück ist das, was wir festhalten möchten. Selbst in der Unabhängigkeitserklärung steht das Recht als „Persuit of Happiness“, zu deutsch: Streben nach Glück schwarz auf weiß geschrieben. Wohlgemerkt, es geht um das STREBEN nach Glück, nicht um das Recht, das Glück selbst einklagen zu können.
Beim Streben nach dem individuellen Glück ‚helfen‘ den Glückssuchenden Ratgeber, Experten, Gurus, Esoteriker, Coaches, Religion…., mit ihren jeweiligen Methoden, Ansichten, Botschaften. Und? Sind wir nun alle individuell oder als Volk glücklicher geworden als unsere Altvorderen oder Bewohner anderer Landstriche auf dieser Erde?
Oder ist Glück eh nur eine Illusion, die es gilt, schleunigst zu enttarnen, damit wir am Ende nicht un-glücklich enden?
Meine Vorstellung von Glück hat sich ebenso drastisch wie rasant wie grundlegend durch die Bücher und Gedanken des Philosophen Wilhelm Schmid geändert. Hier ein kürzlich erschienenes Interview mit ihm im fluter. Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung. Ihn und andere interessante GesprächspartnerInnen zum Thema
„Glück – Alles nur eine Illusion?“
können Sie in einer Live-Diskussion im WDR Fernsehen in der Sendung west.art Talk erleben und zwar am Sonntag, 13.01.2013, von 11.00 bis 12.25 Uhr.
Ferner mit: der Kulturwissenschaftlerin Annegret Braun, dem Psychologen Arnold Retzer, der Management-Trainerin Sabine Asgodom und der Gefängnispsychologin Susanne Preusker; Moderation: Holger Noltze; Kulturmatinee „westart TALK“
Ja, die Diskussion war interessant und spannend. Habe leider nur die zweite Hälfte mitbekommen. Komisch, dass Retzer und Schmid so kontrovers waren, obwohl sie eigentlich die gleiche Grundthese haben: dass viele Menschen durch die Erwartung, jeder könne selbst für sein Glück sorgen, unglücklich werden. Aber Retzer hat es gewagt, auch Schmids Heiligtum „Sinn“ in Zweifel zu ziehen und darauf hinzuweisen, dass viele Dinge, die uns widerfahren, keinerlei Sinn haben. Aber auch damit, sagt Retzer, können wir leben. (Was vor allem Frauen schwer zu fallen scheint. Der alte Streit: Mann glaubt an Zufall, Frau an Schicksal.)
Und wie alt diese Kontroversen sind! „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Mit der Schote quält man uns doch schon seit 120 Jahren. Wer wagt es, diesen Satz einem Kind zu sagen, das gerade auf der Straße von einem Besoffenen überfahren wurde?
Hallo Jens,
Zur Sendung selbst könnte ich noch zig kritische Anmerkungen schreiben. Viele Bekannte/KundInnen fanden die Sendung wie Du interessant bis anregend. Anderen gefiel sie weniger. Mir ging da vieles gehörig auf den Keks, was daran liegen mag, das dort, wie so häufig, versucht wird, eine Sendung für ein breites Publikum zu schaffen, statt mal in die Tiefe zu gehen. (Siehe auch Nachlese zur Kulturtalksendung)
Für mich sind Retzer und Schmid viel zu wenig zu Wort gekommen.
Zu Schmid’s „Heiligtum‘ Sinn: Jemandem, der seine Bücher, u.a. „Philosophie der Lebenskunst“, kennt, dem würde nie in den SINN kommen, ihm zu unterstellen, er würde ihn als Allheilmittel zum rundum ‚gelingenden‘ Leben propagieren.
Es ist EIN, und ja, ein wichtiger Aspekt der Lebenskunst. Sinnlosigkeit hat noch selten jemanden auf lange Sicht glücklich gemacht, im Gegenteil, wohl eher krank und burnoutgeschädigt.
Und gar eine „objektive, neutrale, absolute“ Antwort darauf zu haben oder die alleinige Deutungshoheit zu besitzen, davon ist Schmid – Grundhaltung jedes Philosophen – Lichtjahre entfernt.
Gerade mit der möglichen Sinnlosigkeit – des Hier und Jetzt und allen Lebens und Strebens und alles Seienden – hat er sich so tiefgründig wie mitfühlend auseinandergesetzt. Menschen, die das wagen zu denken: dass ALLES sinnlos sein könnte, haben es schwerer mit dem Leben. Bewusstheit führt nicht per se schon zu einem ‚glücklicheren‘ Leben.
Als Melancholikerin leide ich eher an den Widersprüchen und eventueller Sinnlosigkeit. Als Lebenskünstlerin versuche ich, damit zu leben und klar zu kommen. Wenns geht, mitunter heiter und gelassen. Beileibe nicht immer.
Sinn meint Zusammenhang. Vieles ist aber aus dem Zusammemhang gerissen, bleibt also fragmentarisch, unvollständig und manchmal eben dadurch sinnlos. Und so bleiben auch die kleinen Bücher von Schmid immer nur Fragmente. Ob es Sinn macht, die Themen aus dem Gesamtzusammenhang seiner Grundlagenbücher zu reißen, um sie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen? Manchmal bezweifle ich es. Missverständnissen sind dadurch Tür und Tor geöffnet.
Fakt ist, ohne Sinn lässt es sich schlecht leben, antworten, treffen, malen, dichten, Geld verdienen, die Welt retten. So lautet denn auch sein Vorschlag: Ob es nicht Sinn macht, wenn wir ihn, den Sinn, einfach mal annehmen und versuchen Zusammenhänge herzustellen oder uns zu erschließen.
Das in kurz. Das neue Buch von Schmid befasst sich exakt mit diesemThema. Es erscheint am 11. März 2013. Der Titel: Dem Leben Sinn geben – Von der Lebenskunst im Umgang mit anderen und der Welt, Suhrkamp.
Zu Retzer: Ich fand sein Buch „Miese Stimmmung“ etwas kraus und wirr. Mir war nicht klar, was er damit eigentlich bezwecken will. Den Titel finde ich jedenfalls zum In-die-Tonne-treten. Der Untertitel „Streitschrift gegen positives Denken“ trifft es schon eher. Und schon weil einer wagt, sich GEGEN den Dauerpostiivglücksstromzustand zu stellen, zu mahnen, zu warnen – und sich schon allein dadurch verdächtig und angreifbar macht – schon aus diesem Grund finde ich das Buch lesens- und Retzer sehenswert.
Danke für Deinen Gedanken-anregenden Kommentar!
—-
Apropos: Kommentar. Seltsamerweise MAILEN mir viele Menschen auf meine Blogthemen. Oder rufen mal spontan an. All denen möchte ich Mut machen: Nur Mut! Lassen Sie andere auch an Ihren ERfahrungen, Sichtweisen teilnehmen. Ich kann Ihnen versichern: Sie würden erkennen, wie viele Menschen ähnlich denken, ticken wie Sie oder andersherum, wie wertvoll andere, gegenteilige Meinungen, ÄUßerungen helfen, neue Perspektiven einzunehmen.