Buchrezension:

„Der entgrenzte Mensch – Warum ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht“, Rainer Funk,

Eigentlich wollte ich ein Buch von Sennett, „Der flexible Mensch“, bestellen, hatte den Titel aber falsch im Kopf, und bestellte stattdessen „Der entgrenzte Mensch“ und der ist, surprise, surprise, von Rainer Funk. Gelohnt hat sich die Lektüre dennoch.

Rainer Funk ist Psychoanalytiker, promovierte über die Sozialpsychologie und Ethik Erich Fromms und publiziert zu psychoanalytischen und sozialpsychologischen Themen.

So beschreibt, analysiert, stellt er Lösungen konsequent aus dieser frommschen Sichtweise dar: welche Auswirkungen das individuelle Entgrenzungsstreben auf Mensch, Wirtschaft, Arbeitswelt, Gesellschaft hat und warum ein grenzenloses Leben nicht frei, sondern abhängig macht.

Ähnlich wie der Philosoph Wilhelm Schmid in seiner „Philosophie der Lebenskunst“ und „Mit sich selbst befreundet sein“, plädiert auch Funk FÜR das Setzen von Grenzen, legt den Fokus aber woanders hin. Geht Schmid mit seinem Ansatz der LEBENSKUNST davon aus, dass postmoderne Menschen irgendwann einsehen (müssen, sollten, gut daran täten), sich selbst Grenze und Gesetz zu sein, um im Meer der Möglichkeiten und Freiheiten nicht unterzugehen, beschreibt Funk eher eine Gegenbewegung. Er zeigt auf, dass immer mehr (junge) Menschen NICHT in der selbst-gewählten Be-grenzung ihr Heil suchen, sondern in dessen Gegenteil: in einer totalen Ent-grenzung ihr Heil suchen.

„Grenzen werden ausschließlich als etwas Hinderliches angesehen, so dass diese Grenzen sowie alles, was auf sie stoßen lässt, aus der Welt zu schaffen sind.“ (S. 208). Das ist Kernthese und das Kernthema , um das es in diesem Buch geht.

Warum dies so ist, begründet der Autor stringent und schlüssig (aus der Frommschen Sichtweise), zeigt anhand von nachvollziehbaren Beispielen seine Thesen auf. Wer psychoanalytisch kein unbelesenes Blatt ist, wird natürlich vieles wieder erkennen. Dennoch fand ich besonders die Überlegungen zu den Auswirkungen von „virtuellen Welten“ interessant und bedenkenswert, bieten gerade sie wie nie zuvor Raum und Möglichkeit, sich seiner negativen Gefühle wie Ablehnung, Zurückweisung, Verlierer-sein schnellstens entledigen zu können, indem Mensch sich SOFORT und mühelos wieder als verbunden, ‚liked‘, als Gewinner, als Begehrenswerter darstellen und fühlen kann.

Die Frage ist:

  • Was macht es mit Menschen, Gesellschaft, Zusammensein, wenn es nur noch Menschen gibt, die sich ihrer negtativen Gefühle und dunklen Seiten einfach und konsequent entledigen wollen und können?
  • Was macht es mit Menschen, Gesellschaft, wenn Gefühle wie Schuld, Versagen, Selbstzweifel gar nicht mehr auf- und somit vorkommen?

Ein kleines Beispiel dafür aus dem Buch: Sagten früher die Menschen – explizit oder verdeckt: „Es tut mir leid! Verzeih, das war meine Schuld!“, geht heute die Tendenz dahin, dem Gegenüber zu sagen: „Du hast doch sicher Verständnis dafür, dass….!“ Toll, wenn niemand sich mehr mit eigenen Schuldgefühlen rumschlagen muss – oder?

Zusammgefasst: Der entgrenzte Mensch ist ein Buch, das sicher keine easy-to-read-book für Jedermann ist, sondern m.E. eher für Berater-Profis und interessierte Laien geeignet ist. Es bringt profund und umfassend auf den – frommschen – Punkt, was Entgrenzung meint, welche Gefahren sie birgt, wie wir damit umgehen (lernen) können.

Letztendlich ließ es mich mit einem Gefühl von „Schreck, große Not, will ich das wirklich alles wissen?“ und „Was mache ich jetzt mit dem Wissen?“ zurück. Und dem Nachdenken darüber, ob – Fromm und Funk würden das sicher anders sehen – ob bewusstes Verdrängen nicht doch EINE Form von Problemlösung oder gar LEBENSKUNST ist oder sein könnte…?!

Rainer Funk: Der entgrenzte Mensch – Warum ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht
Gütersloher Verlagshaus, 240 Seiten, gebunden, 19,99 Euro

PS – Ihre Kommentare zum Thema oder zum Buch sind herzlich willkommen!

PPS – Und noch eine Anmerkung, die ich eigentlich bei JEDEM vorgestellten Buch schon anhängen wollte und nun aus aktuellem Anlass doch mal tue: Unterstützen Sie nicht kritiklos oder aus Bequemlichkeitsgründen AMAZON, sondern die kleine, feine Buchhandlung vor Ort. Auch das ist, so meine Meinung, Teil einer Kulturlandschaft, die ich nicht missen möchte!