Es ist schon komisch: Da schreibe ich immer noch – wie seit Jahrzehnten – regelmäßig Tagebuch, notiere da in groben Zügen, was so passiert in meinem Leben, noch viel häufiger schreibe ich auf,  was mir auf der Seele brennt, was mich beunruhigt, bewegt, wütend macht!, und natürlich betreibe ich lustvoll und selbstkritisch Selbst-Reflexion in meinen Tagebüchern, wenn ich grad feststecke. Daran ist erst mal nix komisch; komisch ist, dass ich mich immer noch ziere, hier im Blog meine Gedanken, Erkenntnisse, Sichtweisen, selbst mein Wissen in die Öffentlichkeit zu geben. Es ist ja nicht so, als hätte ich das Gefühl, ich hätte ‚der Welt‘ – Ihnen, liebe LeserInnen – nichts mehr zu sagen oder schlicht keine Lust mehr, Wissen, Gedanken, Kritisches mit Ihnen zu teilen.

Also habe ich mich heute morgen gefragt, warum nicht den ersten Schritt öffentlich tun und mich öffentlich fragen: Was lähmt mich so?

Plopp! machte es: Als Erstes kam mir sofort der Begriff SCHAM in den Sinn. Ich habe lange gebraucht, um zu erkennen, dass ich mich schäme, wofür ich mich schäme, dass Scham der größte Veränderungsverhinderer schlechthin ist, dass Scham an sich notwendig und gesellschaftswichtig ist – aber wie alles, was ZU VIEL ist, uns letztlich ausbremst, fertig mach und in den Burnout zwingt.

Scham ist ein sehr machtvolles GEFÜHL: Es ist die blanke Angst davor,

  • bloßgestellt zu werden
  • sein Gesicht vor anderen – oder sich selbst zu verlieren
  • den eigenen Werten, dem eigenen Selbstbild, den eigenen Erwartungen – oder denen anderer –  nicht zu genügen
  • und die Annahme, all das nicht ‚überleben‘ zu können

Im Rückblick erkenne ich, dass ich VOR dem Burnout schon ganz häufig gesagt habe: „Ich schäme mich: krank zu sein; es nicht alleine gebacken zu kriegen; trotz meines vielen Wissens, mir selbst helfen zu klönnen. Viele haben das überhaupt nicht verstanden – oder machten, siehe unten – noch zusätzlich Druck: DU müsstest dir als Coach doch wohl selbst helfen können!

Seitdem habe ich mich sehr intensiv mit dem Thema Scham auseinandergesetzt; die Literatur zum Thema ist umfangreich, viele davon beschäftigen sich mit den Ursachen von Scham. Das will ich hier an dieser Stelle nicht aufführen. Mir war es wichtiger, herauszufinden bzw. herauszuspüren:

WANN empfinde ich Scham? und WIE lerne ich, anders mit Scham umzugehen?

Mir haben u.a. diese Schritte und Techniken geholfen:

1. Achtsamkeit und Achtsamkeits-Übungen. Ich habe u.a. einen 8-wöchigen MBSR Kurs absolviert. Der beschleunigt das Wahrnehmen des Gefühls, verändert die Bewertung und verhilft zu einem veränderten Umgang – nicht nur mit Scham, sondern mit allen Gefühlen und Gedanken.

2. Der größte Quantensprung war vorher: nämlich als ich anfing, vor anderen – also öffentlich – mein Gefühl von Scham zuzugeben; zuerst vor guten Freunden, dann in der Reha, nun, wo es passt und angebracht ist.

3. Die Erfahrung und Überzeugung,  DASS es tatsächlich Sinn macht, mit ‚meiner‘ Scham – oder Angst, siehe Blogartikel vorher – an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich bin überzeugt, dass  dass ich nur stellvertretend für die vielen anderen in unserer Gesellschaft ähnlich, denen es ähnlich ging/geht wie mir.  Nein, ich schäme mich sicher nicht für alles, wofür andere sich schämen; Scham ist AUCH individuell begründet. Mir ist es wichtig, auch den kulturellen  bzw. gesellschaftlichen Aspekt von Scham aufzuzeigen.

Ich glaube, dass unsere heutige Fit-und-Fröhlichkeitsgesellschaft viel dazu beiträgt, dass viele sich für das schämen, wofür auch ich mich schämte:

  • krank  zu sein
  • sich nicht alleine helfen zu können
  • dass sie/ihr Körper nicht mehr ‚zuverlässig‘ funktionieren
  • dass sie nicht mehr mithalten können mit den Normalen, die ihr Leben doch scheinbar (!) gebacken kriegen
  • anders zu sein, sich nicht mehr zugehörig zu fühlen: zu den allzeit fitten und ewig-gut-drauf-seienden Menschen

Um nur die wichtigsten meiner Scham-Gründe zu nennen.

„Darf ein Zahnarzt Zahnweh haben?“, so habe ich mal einer Freundin geantwortet, als sie – oder ich – mir zusätzlich Druck machte, weil sie meinte, ich als Coach müsse mir doch wohl selbst helfen können. Ja, ein Zahnarzt darf Zahnweh haben, ein Arzt krank werden, ein Coach/Therapeut/Berater einen Burnout haben – und alle, alle haben wir das Recht und die Pflicht, uns HILFE holen zu dürfen! Punkt!

Es braucht einen Zuwachs an Selbstvertrauen und Selbstachtung und Selbstsorge und Selbst-Kenntnis, um aus Scham-Fallen und destruktiven Denkmustern rauszukommen. Und es braucht immer auch einen ersten, konkreten Schritt, um etwas zu verändern.

Dies ist heute ein bzw. mein erster Schritt: einfach zu schreiben, ohne den Anspruch, einen supersupersuper anspruchsvollen Text zu verfassen. Einfach schreiben, was mir jetzt und hier und heute wichtig ist zu sagen und weiterzugeben. Und bekanntlich fängt auch der längste Weg mit einem ersten Schritt an. Wagen auch Sie einen ersten, kleinen, neuen Schritt, wenn sich etwas zum Besseren wenden soll, egal welchen, Hauptsache Sie TUN ihn.